Vom Ende des Gemeinwohls: Diskussion mit Harvard-Professor Michael Sandel
Vom Ende des Gemeinwohls:
Diskussion mit Harvard-Professor Michael Sandel
Große Ehre zum Tag der Deutschen Einheit: Der „Rockstar“ der amerikanischen Philosophie, Harvard-Professor Michael Sandel, war uns in der Kölner Volksbühne am Rudolfplatz zugeschaltet, um mit einem hochkarätig besetzten Präsenzpodium hybrid zu diskutieren: Der ehemalige Präsident des Europaparlaments und spätere SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz – heute in seiner Funktion als Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung – teilte sich die Bühne mit dem Kölner Philosophieprofessor und Sprecher des Wissenschaftsforums zu Köln und Essen Winfried Hinsch und dem AmerikaHaus-NRW-Vorstandsmitglied Dr. Juliane Kronen. Moderiert wurde die Runde von der WDR-Journalistin Martina Buttler. Die Veranstaltung fand in großangelegter Kooperation mit den folgenden Partnern statt: dem Kölner Landtagsabgeordneten Jochen Ott, der Volksbühne am Rudolfplatz, dem Wissenschaftsforum zu Köln und Essen sowie dem Verbund der Deutsch-Amerikanischen Zentren.
In seinem Eingangsstatement präsentierte Michael Sandel die Hauptthesen aus seinem Bestseller Vom Ende des Gemeinwohls (engl. Originaltitel: The Tyranny of Merit). Entstanden sei das Buch als Reaktion auf zwei politische „Schocks“ des Jahres 2016: das positive Brexit-Referendum und die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten. Beides seien Entscheidungen gegen ‚die Eliten‘ gewesen, die die Spaltung der Gesellschaft befeuert hätten. Einen besonderen Vorwurf macht Sandel dabei den Mitte-Links-Parteien diverser westlicher Ländern, die in den vergangenen vier Jahrzehnten zunehmend das neoliberale Mantra der Meritokratie übernommen hätten: also jenen – aus Sandels Sicht – Irrglauben, dass der/die Einzelne mit entsprechender Anstrengung alles erreichen könne. Die „dunkle Umkehrseite“ – nämlich die Stigmatisierung jener, die es eben nicht schaffen – sei berechtigte Grundlage der aktuellen (rechts-)populistischen Gegenbewegungen, die aktuell die nicht gehaltenen Versprechen lautstark anprangerten (freilich ohne eigene Lösungen anzubieten).
Sandels Forderung, die Würde der Arbeit wieder in den Fokus zu rücken und eine ernsthafte gesellschaftliche Debatte darüber zu führen, was „Erfolg“ ausmacht, sorgte auch vor dem Hintergrund der andauernden Corona-Pandemie für großen Zuspruch im – coronakonform – gut besuchten Theater. Die Panellisten vor Ort näherten sich der Debatte daraufhin aus unterschiedlichen Perspektiven. Die größte Übereinstimmung bestand mit dem SPD-Politiker Martin Schulz, der seiner eigenen Partei große Vorwürfe für die Agenda-Politik der frühen 2000er Jahre machte: Deren gesellschaftliche Auswirkungen seien Grundlage des heutigen Kulturkampfes, den wir heute zwischen urbanen und ländlichen Gegenden erlebten – in Deutschland sowie analog in Großbritannien und den USA. Helfen würde eine Stärkung des Sozialstaats und eine Rückbesinnung auf die Alltagssorgen der Menschen. Die Forderung nach einer stärkeren praktischen Ausrichtung machte sich auch Wilfried Hinsch zu eigen – in einer, wie er eingangs betonte, im besten akademischen Sinne wertschätzenden Kritik von Sandels Theorien. Insbesondere warf er diesem vor, dass nicht jede gesellschaftliche Ungleichheit zugleich ungerecht sei. Dr. Juliane Kronen schließlich stimmte Sandel zum Einen zu, indem sie die von ihm kritisierte Meritokratie als „säkulare Variante des Calvinismus“ deutete; auch betonte sie jedoch den Wert von nichtstaatlichen unterstützenden Strukturen: einerseits am Beispiel von „Mentoring“ in größeren Strukturen, in denen klar sei, dass niemand alleine Erfolg habe; andererseits anhand von Sozialunternehmen, die sich für das Gemeinwohl und sozialen Fortschritt einsetzten.
Sandels abschließender Appell an das privilegierte Publikum vor Ort sowie per zugeschaltetem YouTube-Livestream, Demut („Humility“) zu zeigen angesichts der eigenen Situation, wurde in der anschließenden Diskussion unter reger On- und Offlinebeteiligung noch mehrfach aufgegriffen. Wir bedanken uns ganz herzlich bei allen Partnern und freuen uns sehr auf künftige Gelegenheiten zur Zusammenarbeit!
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