Historischer Wendepunkt oder Fußnote der Geschichte? Eine Bilanz des Irakkriegs nach 20 Jahren
In Kooperation mit dem Katholischen Bildungswerk Wuppertal/Solingen/Remscheid und der Volkshochschule Solingen organisierte der AmerikaHaus NRW e.V. am Mittwoch, dem 10. Mai, ein Webinar mit dem Titel „Historischer Wendepunkt oder Fußnote der Geschichte? Eine Bilanz des Irakkriegs nach 20 Jahren.“ Prof. Dr. Stephan Bierling, Leiter der Professur für Internationale Politik und transatlantische Beziehungen an der Universität Regensburg, erörterte im Gespräch mit Dr. Moritz Baumstark vom Katholischen Bildungswerk die Hintergründe und insbesondere die langfristigen Folgen des Irakkriegs. Die Diskussion spannte einen Bogen von der Situation im Irak nach dem Golfkrieg von 1991 über die Terroranläge des 11. September bis hin zum gegenwärtigen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Behandelt wurden sowohl die Begründungen für den Krieg als auch die innenpolitischen Auswirkungen in den USA und die außenpolitischen Lehren, die aus dem Irakkrieg gezogen wurden.
Prof. Dr. Bierling erläuterte eingangs, dass der völkerrechtlich legitimierte Golfkrieg von 1991 zwar nach kurzer Zeit mit der Niederlage des Iraks und der Befreiung Kuwaits geendet war, dass der damalige irakische Präsident Saddam Hussein sich jedoch entgegen den Erwartungen an der Macht halten und sein diktatorisches Regime fortsetzen konnte. Da zusätzlich die Frage, ob der Irak Massenvernichtungswaffen besaß, nicht vollständig geklärt wurde, sei der Golfkrieg von 1991 in den USA als unvollendet wahrgenommen worden. Präsident Clinton habe sich allerdings mit dieser Situation arrangiert, auch als Mitte der 90er Jahre die sogenannten Neokonservativen, damals noch eine weniger beachtete Gruppierung, den „regime change“ zu fordern begannen.
Erst nach dem Schock von 9/11, so Prof. Dr. Bierling, fand diese Forderung in der amerikanischen Bevölkerung Anklang. Denn die Terroranschläge vom 11. September, erinnerte der Experte, hätten die USA zutiefst erschüttert. Gerade noch waren sie die einzige Supermacht gewesen, hatten nach dem Zerfall der Sowjetunion ihren „unipolaren Moment“ erlebt, und dann gelang einer Gruppe von Terroristen ein so folgenschwerer Anschlag mit fast 3.000 Toten auf US-Territorium. So seien Panik und Allmachtsphantasien nach 9/11 zusammengekommen. Nachdem al-Qaida, die aus Afghanistan heraus agierten, als Urheber der Anschläge identifiziert wurde, begann der sogenannte „War on Terror“, anfangs noch vorsichtig, mit wenigen Spezialkräften. Man wollte mit Verbündeten, einer überlegenen Militärmacht und Geheimdienstinformationen den „regime change“ schnell vollziehen – und es gelang, das Taliban-Regime innerhalb weniger Wochen zu schlagen.
Dieser Erfolg habe zu einer gewissen Hybris der Bush-Administration geführt. Ausgehend vom „unvollendeten“ Golfkrieg 1991 und der ungelösten Frage der Massenvernichtungswaffen seien im Jahresverlauf 2002 immer stärkere Vorwürfe gegen Saddam Hussein formuliert worden, bis sich die Diskussion schließlich verselbständigt habe. Unterfüttert von vermeintlich gesicherten Geheimdienstinformationen sei ein „Hirngespinst“ entstanden, so Prof. Dr. Bierling, das in der Rede des damaligen US-Außenministers Colin Powell seinen Ausdruck gefunden habe. Tatsächlich habe man, nachdem die Abschreckungsfähigkeit der USA so drastisch infrage gestellt worden war, am Irak ein Exempel statuieren wollen.
Die anfängliche Zustimmung der amerikanischen Bevölkerung zum Irakkrieg sei jedoch innerhalb des ersten Jahres gekippt, als keine Massenvernichtungswaffen gefunden und die Kriegsziele vager wurden. Je länger die Besetzung anhielt, desto stärker sei die kollektive Erinnerung an den Vietnamkrieg in den Vordergrund getreten. Zu den langfristigen Folgen des Irakkriegs, resümierte Prof. Dr. Bierling, zählten daher neben einem Vertrauens- und Reputationsverlust der USA auf internationaler Ebene auch ein Zusammenbrechen innenpolitischer Unterstützung für langwierige und kostspielige Auslandseinsätze des US-Militärs mit unklarer Zielsetzung.
In der anschließenden Publikumsfragerunde ging Prof. Dr. Bierling noch einmal genauer auf die Argumentation für den Krieg ein. Er verdeutlichte, dass nachdem keine Massenvernichtungswaffen gefunden wurden, eine andere Begründung in den Fokus gerückt wurde: die Befreiung und Demokratisierung des Iraks. Nach den Lehren befragt betonte er, dass eine große internationale Koalition genauso gefehlt habe wie eine nüchterne Betrachtung der Frage, ob hier wirklich vitale Interessen der USA auf dem Spiel stünden. Nicht zuletzt, so Prof. Dr. Bierling, sei im Irak deutlich geworden, dass Kriege oft länger dauerten und weitreichendere Folgen haben könnten als zunächst kalkuliert. Wenn der russische Präsident Putin diese Lektion berücksichtigt hätte, so Prof. Dr. Bierling abschließend, hätte er vom Angriffskrieg auf die Ukraine möglicherweise abgesehen.
Wir danken unseren Kooperationspartnern herzlich für die Zusammenarbeit und dem Publikum für eine engagierte Diskussion.
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